von Prof. Dr. Peter J. Bräunlein
Im ersten Kapitel meines Buches "Passion/Pasyon - Rituale des Schmerzes im europäischen und philippinischen Christentum" (Fink-Verlag, 2010) wird die religionswissenschaftliche und ethnologische Diskussion um die analytische Kategorie 'Religion' vorgestellt.
Zur Problematik einer unvoreingenommenen Religionsforschung
Selbstgeißelungen und Selbstkreuzigungen sind feste Bestandteile österlicher Passionsbräuche auf den Philippinen. Solche Rituale finden zwar nur an wenigen Orten der Philippinen statt, doch die mediale Vermittlung über Tageszeitung, Fernsehen und mittlerweile das Internet machen sie nicht nur im ganzen Land bekannt, sondern allen Bewohnern unseres "global village." Selbstgeißelungen und rituelle Kreuzigungen sind demnach gleichermaßen Phänomene eines lokalen Katholizismus wie der globalen Mediennetzwerke.
Für Außenstehende wirkt das Ganze befremdlich und bietet Projektionsflächen vielfältiger Art. Betrachter von YouTube-Clips glauben augenblicklich zu wissen, worum es geht: um Belege eines blutigen, fanatischen, irgendwie mittelalterlichen Christentums. Gegensätze von "eigen"-"fremd," "modern"-"vor-modern," "entwickelt"-"unter-entwickelt" sind in dieser Wahrnehmung ebenso aktiviert wie die Schaulust am Bizarren und Absonderlichen.
In meiner dreijährigen Forschung zu philippinischen Passionsritualen wurde das Fremde ebenso eine Herausforderung wie das Eigene. Um Praktiken ritueller Selbstverletzung auf den Philippinen zu verstehen, war eine religionshistorische Spurensuche erforderlich. Die Rekonstruktion der Beziehung von Körper, Schmerz und Christentum, von Imaginationen und Affekten der europäischen Religionsgeschichte ist notwendig, um Übertragungsvorgänge auf den Philippinen zu beleuchten. Die Begegnung mit Selbstkreuzigerinnen und Flagellanten diente dazu, deren Deutungsmuster, Motive und Lebensgeschichten zu verstehen. Zugänge zu einer Innensicht werden über den Nachvollzug sozio-kultureller Binnenlogiken und der Wechselbeziehungen von kolonialer Macht und lokalen Verhältnissen möglich. Die Zusammenführung von Ethnologie und historischer Anthropologie zeigt, unter welchen Bedingungen sich Religion in der philippinischen Moderne artikuliert.
Die Einleitung zu meiner Monographie Passion/Pasyon. Rituale des Schmerzes im europäischen und philippinischen Christentum (Fink Verlag, 2010) verweist auf die grundsätzliche Problematik des Begriffs 'Religion'. Was im Alltag problemlos über die Lippen geht, ist wissenschaftlich längst zu einer "dubiosen analytischen Kategorie" geraten. In den vergangenen Jahren erfolgte daher eine intensive religionswissenschaftliche und ethnologische Befragung dieser Kategorie, deren christliche, insbesondere protestantische Grundierung außer Frage steht. Genau dies macht die Religionsforschung in Südostasien zu einer besonderen Herausforderung. Kulturelle Selbstaufklärung im religionshistorischen Rückgriff wird zur Voraussetzung für das Beschreiten neuer Pfade.
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